Leseprobe aus »Hohenecker Protokolle«:


»Papa, mach Du!«
Eine Rückkehr nach Hoheneck


Ein gutes Vierteljahr nach dem Sturz der SED-Herrschaft in Mitteldeutschland bin ich auf Einladung des Stollberger Superintendenten Martin Kreher, der mein Buch bei einem Westbesuch in die Finger bekommen hat, ins Erzgebirge gereist, um erstmals meinen im doppelten Sinne unfreiwilligen Geburtsort von Angesicht zu Angesicht sehen zu können. Meine Frau, die Mitte der 70er Jahre ebenfalls politischer Häftling in Hoheneck war, begleitet mich auf dieser Reise in die Vergangenheit, die für sie viel dramatischer ist als für mich, der ich keine unmittelbare Erinnerung an diesen Ort habe

Als wir im Hause von Superintendent Kreher am Abendbrotstisch seiner rührigen Frau auf diese Dimension des Phänomens »Hoheneck« zu sprechen kommen, fällt irgendwann der Name »Suttinger«. Er wird von Christine Storck ausgesprochen, die 1980 als Zahnmedizinstudentin die Gefängnis-Burg von innen kennenlernte, während ihr Mann, Matthias Storck, heute Pfarrer im westfälischen Kirchlengern, zur selben Zeit in Cottbus einsaß. 14 Monate Haft verbüßten beide. Ihr »Verbrechen«: »Landesverräterische Agententätigkeit« – einer der berüchtigsten Gummiparagraphen der Honecker-Ära, die gegen politisch Andersdenkende und deren Westkontakte inflationär angewendet wurden.

Suttinger. Frau Leutnant, wie sie damals genannt werden mußte. Heute Frau Oberleutnant a.D. Eine von jenen, die Veits Drecksarbeit machten. Tagtäglich. Jahrzehntelang. Wenn Christine Storck über diese Frau zu sprechen beginnt, kommt etwas in ihr Gesicht und in ihre Stimme, das keine Zeit zu verdrängen in der Lage ist: die gerechte Empörung eines in seiner Würde verletzten Menschen. »Die Suttinger«, sagt sie, »war eine Frau, die nie eine menschliche Regung zeigte, wenn ich sie sah. Sie trat immer hart, verkrampft, verzerrt und böse auf. Sie gab immer das Gefühl, daß sie uns Gefangenen zeigen mußte, wer die Macht hat.«

An diesem Abend beschließen wir, Frau Oberleutnant a. D. Suttinger zu stellen. In ihrer Wohnung, wenn sie uns hineinläßt. Christine Storck hat erfahren, daß die ehemalige »Erzieherin« in der Hufelandstraße wohnt. Als wir vor dem Viertel parken – über dem nahen Krankenhaus flattert bereits die Bundesflagge neben vielen weißgrünen Sachsenfahnen – , wissen wir die Hausnummer noch nicht. Block für Block kämmen wir durch, lesen die Klingelleisten herauf und herunter. Schließlich fragen wir einen jungen Mann, und er weiß, wo Familie Suttinger wohnt: »In Nummer 50«, sagt er einfach.

Wieder erlegen wir uns Zurückhaltung auf. Es soll keine Jagdszene geben. Eine Konfrontation mit der Vergangenheit schon. Unsere Frauen wollen deshalb im Hintergrund bleiben, sich nicht zu erkennen geben. Als Pfarrer Storck und ich im vierten Stock des Neubaublocks Hufelandstraße 50 klingeln, passiert eine ganze Weile nichts. Wir klingeln wieder, wollen schließlich gehen, als plötzlich die Tür aufgerissen wird und ein beleibter Mann vor uns steht: in Unterhemd, Trainingshosen und Filzpantoffeln. Nachdem ich unseren Wunsch geäußert und unsere Herkunft geklärt habe, zu der auch der Hinweis gehört, daß ich im Auftrag meiner Zeitung hier bin, sagt Herr Suttinger: »Meine Frau ist im Keller!«. Sie habe Reinigungsdienst, und ob sie überhaupt reden wolle, entscheide sie.

Während Herr Suttinger mich in die Wohnung hereinbittet, mir sogar Filzpantoffeln anbietet und einen Sessel, eilt Matthias Storck hinab, um Frau Suttinger heraufzubitten. Doch Frau Suttinger will nicht reden. Erst der Hinweis, daß ich schon im Wohnzimmer säße, bringt sie nach oben – die beiden Frauen erkennt sie nicht wieder. Umgekehrt sieht es anders aus. Christine Storck muß sich von dieser Sekunde an furchtbar zusammenreißen. Hinterher sagt sie, daß ihr in der Wohnung schlicht übel geworden sei, und auf die Minuten davor bezogen: »Ich habe gedacht, ich hätte die Frau nicht mehr beschreiben können. Ich war deshalb schockiert, daß man einen solchen Menschen sofort wiedererkennt. Unter Tausenden hätte ich dieses Gesicht wiedererkannt. Ich habe immer nur gedacht, die darf mich jetzt nicht wiedererkennen. Diese kleinen, stechenden Augen, der Mund, das ganze Gesicht bestand aus diesem Mund, der damals fast nur geschrien hatte!«

Nach langem Reden, das ein sanftes Überreden ist, sitzt Frau Suttinger auf ihrer Couch – immer noch nicht bereit zu reden, aber dann doch, mit kurzen Sätzen, die im Lauf der Stunde länger werden. Eine schmächtige, kleine Frau in Kittelschürze, auf dem Kopf ein zusammengebundenes Tuch, hinter der Brille unruhige Augen. Ihr Gesicht ist blutleer, die Lippen schmal und fast weiß. Nur rote Flecken am Hals und die mit einem Schlüsselbund ringende Hände verraten, was im Innern der Frau vor sich geht.
»Sind Sie enttäuscht, daß alles jetzt so gekommen ist?«, frage ich.
»Natürlich ist man enttäuscht,«, sagt Frau Suttinger, »das konnte ja keiner ahnen!«


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